Grafschafter Schulgeschichte

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Lamann/Huesemann

Biographien Grafschafter Lehrerinnen und Lehrer

Lambert Lamann und Jan Harm Hüsemann

1843 - 1921   /    1842 - 1921

I.
In der zweiten Hälfte des abgelaufenen Maimonats sind mit einem Zwischenraum von acht Tagen zwei alte Grafschafter Lehrer einander in den Tod gefolgt. Es waren eigenartige Menschen und Schulmeisteroriginale im guten Wortsinne. Mit ihrem Sein und Denken gehörten sie der Vergangenheit an, jener Zeit, in der noch die Grafschaft weit abgelegen lag, und ihre Männer noch nicht in den langen Weltkrieg hinausgezogen waren. Es ist nicht wahrscheinlich, dass die gleichmachende Entwicklung in Gegenwart und Zukunft Gestalten von ähnlich eigenem Gepräge wie Lamann und Hüsemann hervorbringe, und es ist darum nicht nur für die vielen, die den beiden in ihrem Leben nahe standen, eine Pflicht, ihrer bei ihrem Tode dankbar zu gedenken, sondern es hat auch für jeden Freund unseres Landes und Volkes seinen besonderen Reiz, sich mit den Lebensgängen dieser Männer zu beschäftigen und ihre Lebensarbeit im Zusammenhange ihrer Zeit zu würdigen. Sie können als Typen eines abgeschlossenen Zeitabschnittes angesehen werden.

Lamann und Hüsemann stammten aus einander ähnlichen Verhältnissen. Sie waren beide Bauernsöhne, deren Wiegen einst fast gleichzeitig kaum zwei Stunden von einander entfernt im mittleren Teile der Grafschaft gestanden hatten. Beide Lehrer, beide etwa zu gleicher Zeit und gemeinschaftlich für ihren Beruf vorgebildet, haben sie die Grenzen der Grafschaft nur selten und für kurze Zeit verlassen,  und der Lebenslauf des einen gleicht äußerlich dem des anderen. Dennoch waren sie in ihrem ganzen Wesen von einander grundverschieden. Lamann, der lebhafte, in seien kräftigen Jahren ein Draufgänger, ein Feuerkopf, den ein unbezwinglicher Tätigkeitsdrang über den engen Bereich seiner Berufsarbeit hinausleitete, - Hüsemann, von Hause aus  eine in sich gekehrte, stille Natur, den eine harte Berührung mit dem rauen Leben nur noch mehr in sich zurückziehen ließ, nur noch scheuer gegen die Menschen machte, der sich in unaufhörlicher Gedankenarbeit auf einsamer Stube oder abgelegenen Wandergängen seine eigene, friedlich schöne Welt baute.

Einst waren sie Zöglinge einer Lehrervorbildungsanstalt gewesen, die der zum Oberschulrat ernannte, bisherige Schüttorfer Rektor August Fokke (* 1802 in Lingen, + 1872) 1851 an einem Gartenwege auf der Südseite von Neuenhaus eingerichtet hatte. Hier wurden in einjährigem Gange die meistens 15 - 17jährigen Jünglinge aus Stadt und Bauerschaft zu Landlehrern ausgebildet. Bescheiden, an heutigen Begriffen gemessen, war in Bezug auf Lehrkörper (zwei Lehrer) und Lehrmittel diese Anstalt der Hannoverschen Regierung, die seit 1845 einen vorher ungeahnten Eifer für die Hebung des allerdings arg daniederliegenden Volksschulwesens zeigte: bescheiden konnte auch nur das Maß allgemeiner und beruflicher Ausbildung sein, das diese Vorbereitungsschule zu vermitteln vermochte; recht bescheiden waren die gesellschaftlichen und materiellen Aussichten, die sich den Schülern - der Neuenhauser Volkmund nannte sie "Mesterties" - auftaten. Achtenswert sind trotz alledem in vielen Fällen die Erfolge der Anstalt gewesen, was wohl darin seinen Grund hatte, dass ihr zumeist nur hervorragend begabte Volksschüler zugeführt und diese angehalten wurden, sich nachher im Amte ernstlich weiter zu bilden. Es sind aus dieser Anstalt Lehrer hervorgegangen, die später bei ganz veränderter Zeitlage und bei gründlich umgestalteter Berufsausbildung unter ihren Amtgenossen ihren Mann standen, wie Ensing in Neuenhaus (1848 - 1884), Fuhlenbrook in Hilten (1845 - 1904), wie die jetzt im wohlverdienten  Ruhestande lebenden Volkers in Ohne und Koning in Bakelde; auch Körner, den das heute erwachsene oder bereits bejahrte Uelser Geschlecht mit Stolz seinen Lehrer nennt, gehört hierher, nur hatte er den in Neuenhaus gelegten später in einem ordentlichen Seminar weiter bebaut.

Lambert Lamann war am 27. August 1843 zu Grasdorf geboren worden. Nach erfolgreichem Besuch der Vorbereitungsanstalt im benachbarten Neuenhaus war er 1862 mit dem Zeugnis der Reife für eine Landlehrerstelle entlassen. Eine geeignete Stelle fand sich jedoch für ihn nicht sofort. Als bei der bald darauf erfolgten Musterung zum Soldatendienste nur diejenigen  jungen Lehrer von der Einberufung befreit blieben, die angestellt waren, musste Lamann sich der Militärdienstpflicht unterziehen. Als hannoverscher Grenadier machte er 1866 den Krieg gegen Preußen mit. Sechs Wochen nach der Waffenstreckung bei Langensalza am 15. August 1866, kam er als preußischer Schulmeister nach Wielen an der Landesgrenze im Kirchspiele Uelsen.

Hermannus Metelerkamp Cappenberg aus Uelsen, unter den reform. Pfarrern der Grafschaft ein Sonderling, der heute - 30 Jahre nach seinem Tode - noch weitum in lebendiger Erinnerung steht, führte ihn in sein Amt ein. Hier in Wielen war auf einem kahlen, sandigen Heidehügel außerhalb der Bauerschaft, am Wege nach Balderhaar und Vennebrügge, 12 Jahre vorher ein neues Schulgebäude errichtet worden, das sich heute, wo es landwirtschaftlich benutzt wird, etwas armselig darstellt, in jener Zeit aber an Ansehen hinter den anderen Bauerschaftsschulen der Gegend nicht zurückstand (Inschrift: Gebaut 18  5|9  54. Darunter steht, verkittet, anscheinend: ... in het jaar 1844). Hermannus Lambertus Crull, der jedoch erst viel später sein Herz für Wohlfahrtszwecke seinem großen Besitze entsprechend weiter öffnete, Willem Iemhoff, der etwa 1887 verstorbene unermüdliche Förderer gemeinnütziger Bestrebungen in Bauerschaft und Kirchspiel, und Jan Gr. Balderhaar waren die Väter der kleinen Schule; Iemhoff sorgte für eine freundliche Umrahmung des Grundstückes durch Anlage eines Kiefernhaines mit Birkenallee, Crull stiftete eine Glocke. Wie entlegen im übrigen die Schulstelle war, veranschaulichen zwei Entfernungsangaben: zur Kirchspielkirche war der Weg 15 Kilometer, zum deutschen Bahnhofe gar 50 Kilometer weit! Lamann brachte in das stille Wielener Leben eine lebhafte Note. Noch Jahrzehnte nachher war, wie ich feststellen konnte, die Erinnerung an seine Tätigkeit allgemein sehr rege in Wielen, wo er acht Jahre gewirkt - länger als die meisten seiner Vorgänger und seiner vielen Nachfolger. Als er 30 Jahre alt geworden war, dachte er daran, sich einen eigenen Herd zu gründen. Aber an der Erbauung einer Lehrerwohnug war in jener Zeit bei der geringen Anzahl zahlkräftiger Gemeindeglieder nicht zu denken, und ihm blühte nicht das Glück, das sein um zwei Tage jüngerer Nachbarkollege H. Lahuis (*29. 8. 1843 + 26.11.1888) in Ratzel hatte, dem damals aus Staatsmitteln eine Dienstwohnung erbaut wurde. Deshalb setzte Lamann seinen Wanderstab weiter nach jener noch abgelegeneren Gegend in der moorigen Nordgrenze der Grafschaft, die sein Meister Fokke in der später erschienenen Erzählung "Anna Holmer" geschildert hat  ("Die frommen Kinder von Emlichheim bei den Ringer Boen").

Dort war in Neuringe derzeit eine Schule mit einem "Schulhause" erbaut worden. Damals und noch lange nachher stand der Landstrich im Umkreise des Bathorner Diekes nicht im Rufe großer Gemütlichkeit und Friedfertigkeit, wobei nicht verschwiegen werden soll, dass auch führende Grafschafter in jener Zeit dort entsprossen sind, wie der in Berlin als preußischer Abgeordnete verstorbene J. Jacobs in Georgdorf und der Vorsteher J. H. ter Bahne in Pikkardie, gleich Jacobs ein gern gehörter Wanderprediger (Katechesant). Lamann ließ sich durch das Gerücht der Gegend nicht zurückhalten. Seine Soldatennatur reizte ihn, gerade hier die Hütten seiner Arbeit aufzurichten. Und fast ein halbes Jahrhundert hat er in Neuringe als ein richtiger Pionier der Kultur in Segen gewirkt, hat dort schließlich Enkel unterrichtet, deren Großväter auch bereits zu seinen Füßen gesessen hatten.

Sein Beruf brauchte seine Kraft nicht auf. Er war nicht bloß Lehrer der Jugend, sondern auch Berater der Alten in allen persönlichen und wirtschaftlichen Nöten, sowie oft Seelsorger. Daneben war er praktischer Landwirt, Standesbeamter und dem Wesen nach auch Gemeindevorsteher. Er blieb eine allzeit heitere, unverzagte Natur, auch dann noch, als ihn seine Vielgeschäftigkeit gelegentlich in Gegensatz zu seinen nächsten Vorgesetzten brachte. Hierbei darf ein gerechtes Urteil die damals oft vorhandene Unzulänglichkeit der Schulaufsicht nicht außer acht lassen. Mit den Lehrern der Umgegend, so mit Zwafelink in Adorf, Tüchter in Georgsdorf, Schniders in Alte Pikkardie, Schievink in Hoogstede und Wieferink in Scheerhorn, die sämtlich Lamann - zum Teil längst -  im Tode vorangegangen sind, verband ihn nachbarliche Freundschaft. Doch kann es zweifelhaft bleiben, ob er sich mit ihnen je über pädagogische Streitfragen der Zeit auseinandergesetzt hat. Von beruflicher Lehrerbewegung hat er sich ferngehalten und an den Vereinsbestrebungen seines Standes schwerlich jemals Anteil genommen.

Ein ungewohntes Leben kam in die weiten Moorgründe ost- und südwärts von Neuringe, als in den siebziger und achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts der Südnordkanal und der Kanal Pikkardie-Coevorden gegraben wurden. Wie man einst bald nach dem dreißigjährigen Kriege hier nach holländischen Muster die Kolonie Pikkardie angelegt hatte, der später die benachbarten Siedlungen, worunter auch Neuringe,  gefolgt waren, so baute man nunmehr, 300 Jahre nachher, wiederum in Nacheiferung eines bewährten Vorbildes des Nachbarlandes ein großes Kanalnetz, das die weiten Moorgebiete entwässern und dem Verkehr erschließen sollte; im Herbst 1870 waren von französischen Kriegsgefangenen in der Nähe von Frenswegen und von Hanekenfähr (Ems) erster Spatenstich und erste Erdbewegungsarbeiten dazu geleistet worden. Eigentumsauseinandersetzungen und Grundenteignungen, die der Kanalbauplan mit sich brachte, ließen manchen Moorflächenbesitzer seine Schritte nach dem stillen Schulhause in Neuringe lenken, wo man ihm gern und nicht selten mit Erfolg riet und half. Seit jenen Jahren hat Lamann seinen Gemeindegliedern eine Unsumme von mündlichem Rat und schriftlicher Hilfe angedeihen lassen, und es ehrt den Toten wie den Nachlebenden, wenn das jetzt bei seinem Hinscheiden von der Schulgemeinde öffentlich dankbar anerkannt wird. - Nachdem die Fahrräder aufgekommen waren, wusste auch Lamann trotz vorgeschrittenen Alters sich dieses Verkehrmittels auf den weiten Wegen nach der Nieder- und Obergrafschaft hinaus mit Geschick zu bedienen.

Als ich kurz vor Kriegsbeginn, nachdem mich lange Jahre der Heimat ferngehalten hatten, an den freundlich umbuschten, zum Teil auf dem schwankenden Untergrunde etwas aus dem Lot geratenen Ansiedlerhäusern mit dem Blicke nordostwärts auf Kirche und Windmühle des Twister Bültes vorbeikam, erfuhr ich, dass Lehrer Lamann seit einiger Zeit hier in Neuringe im Ruhestande lebe. Ich suchte meinen alten Vorläufer aus der einsamen Wielener Heideschule vergeblich auf; er war ausgegangen, - und ich habe ihn nicht wiedergesehen.

Bei seinem Sohne, einen Landwirt in Neuringe, ist der Kämpfer von 1866, der in seinem Kreise das Leben immer soldatisch anzugreifen und zu meistern gewusst hat, der in allen Stürmen und Scherereien des Alltags sich stets "an Bord wohl" (ein Lieblingsausdruck in seinen Briefschlüssen) fühlte, in Frieden heimgegangen, alt und lebenssatt, am 18. Mai 1921. Seine Kinder setzen seinen Stamm fort.

II.
Jan Harm Hüsemann dagegen  war Junggeselle geblieben, was manche Eigenwilligkeit in dessen Lebensgewohnheiten erklären hilft. Einige Monate vor Lamann, am 27. Dezember 1842,  hatte er das Licht der Welt zuerst erblickt. Sein Geburtsort ist Bakelde, wo er im Kreise von fünf Geschwistern, die er alle überlebt hat, aufwuchs. Hierin hat er sich nach langer Pilgerfahrt wenige Wochen vor seinem Tode - wie der von ihm verehrte Luther einst - nach seinem Heimatorte begeben, um dort zu sterben. Bis in sein hohes Alter gedachte Hüsemann mit rührender Kindesliebe seiner längst entschlafenen Mutter, die ihn auf einsamen Gängen an der Blanke (kleiner Landsee südlich von Nordhorn) vorbei, wo dem Kleinen die (später verschwundenen) Uferhäuser als im Wasser liegend erschienen waren, nach Frensdorfer Haar geleitet hatte. Dort hatten sie den alten Sandschulte aufgesucht, einen ernsten, redebegabten, schriftgläubigen und bibelfesten Landmann, der auf den empfänglichen Sinn des jungen Jan Harm einen tiefen Eindruck machte. (Anmerkung des Verfassers: Die nicht geringe Bedeutung dieses Mannes für seine Mitwelt und seines Kirchspiels verdiente wie die Tätigkeit manches anderen Katechesanten wohl eine freundliche Würdigung, die bislang noch fehlt! Wer gibt sie?)

In der alten Bakelder Schule auf dem Kreuzweg bei Bisink war Arends aus Oorde, dem Hüsemann ein dankbares Gedächtnis bewahrt hat, zeitweilig in der Winterzeit sein Lehrer gewesen. Seine Jünglingsjahre hatte Fokke, dessen Schule er seit 1860 besuchte, richtunggebend beeinflusst, so dass er sich als Greis noch besonders dankbar dieses Lehrers erinnerte. Soldat ist er nie gewesen; das Kasernenleben würde ihm auch gar nicht gelegen haben. Ins Schulamt trat er 1861 zu Hesepe ein. Etwa dreißig Jahre ist er hier als Lehrer  tätig gewesen. Im nahen Nordhorn wirkte damals H. Zwitzers (Geb. 24. August 1804 in Gildehaus, 1826 Lehrer in Lage, 1834 Gehilfe seines Vaters in Nordhorn, 1854 nach dessen Tode endgültig angestellter Lehrer und Organist daselbst, feierte 1876 das 50jährige Dienstjubiläum, trat 1. November 1880 in den Ruhestand und starb 26. Januar 1882. Einer seine Söhne war der kürzlich in hohem Alter verstorbene Schulrat A.E. Zwitzers in Emden), einer alten Grafschafter Lehrerfamilie entstammend. Dieser war mit der Zeit der Älteste und Führer unter den Lehrern der Umgegend geworden. Um ihn scharte sich mit Kiewit in Brandlecht (+ 1888), Lampen in Frensdorferhaar, Hugen in Frensdorf, Sluiters in Bookholt, Duisink in Bimolten, Bergmann in Altendorf und dem später dazugekommenen Koning in Bakelde auch Hüsemann. Regelmäßige Konferenzen, in denen Fragen der Berufs- oder der Allgemeinbildung behandelt wurden, gaben seiner Fortentwicklung im Amte große Förderung. Die vorstehend aufgezählten Herren traten zum Teil mit der Zeit von dem Schauplatz ihrer Tätigkeit ab, und an ihrer Stelle tauchten später u.a. Klompmeyer und für eine Zeitlang Diek auf. -

Auch die jedes Jahr einmal zu Pfingsten zusammentretenden Versammlungen der evgl. Lehrer der Grafschaft besuchte Hüsemann stets, nie handelnd, doch immer aufmerksam zuhörend. Wieking in Gildehaus, Mülder (der Aeltere) in Schüttorf, Borggreve und van den Bosch in Neuenhaus, Schmidt (Rektor) in Nordhorn gehörten zu den Führern dieser Grafschaftkonferenzen, die in Nordhorn, zuletzt einige Male in Neuenhaus, stattfanden und die bald nach 1900 eingegangen sind. - Von entscheidender Einwirkung auf Hüsemanns Weltanschauung war Pastor Brands, der bis 1879 in Nordhorn gestanden hat und 1897 in Stapelmoor bei Bunde gestorben ist. Brands Einfluss bewirkte einmal, dass Hüsemann sich auf den Boden entschiedener Rechtsgläubigkeit stellte und in der Folge gegen jede Art Bibelkritik ganz unempfindlich blieb, und sodann seine Vorliebe für die Beschäftigung mit den Kirchenvätern und mit den Werken Kalvins. Der schlichte, alte Lehrer, der sich alles Wissen so gut wie völlig autodidaktisch hatte erwerben müssen, besaß auf den bezeichneten Gebieten eine erstaunliche Belesenheit, wobei ihn eine ungewöhnliche Gedächtniskraft unterstützte.

Doch nur wenige gute Freunde haben einen Einblick in den Schatz seines Wissens zu tun vermögen, mit dem er, wäre er mehr aus sich herausgegangen, manchen alten und besonders jungen Amtsgenossen hätte beschämen können. Dass man sich unter seinen Schülern seiner mit herzlicher Anerkennung erinnerte, davon war ich noch Zeuge letzten weißen Sonntage. Wir beide hatten uns nach einem längeren Gange an der Ostseite von Oorde beim Hofe eines hochbetagten kernigen Altgrafschafters (H. Freriks in Oorde (Altendorf), wenige Tage nach dem Niederschreiben vorstehender Zeilen,     + 4.6.1921; er war * 8.1.1828, ist also fast 93 1/2 Jahre alt geworden - Auskunft seines Enkels H. Lödden) in den sommerwarmen Sonnenschein gesetzt. Unerwartet kam ein bereits ergrauter Mann, der einst in Hesepe zu Hüsemanns Füßen gesessen, daher, trat auf seinen alten Lehrer zu, reichte ihm die Hand und sagte zu ihm, dass er sich seiner allzeit dankbar erinnere, und dass er im Kugelregen von Frankreich oft an seinen Lehrer, den Freund seiner Jugend, gedacht habe. Es dauerte einige Zeit, bis Hüsemann seinen einstigen Schüler, den er seit vielen Jahren nicht gesehen, wiedererkannte. Mir wird das kleine Erlebnis unvergesslich bleiben.

III.
Hüsemann war ein pflichteifriger Lehrer, der untertan war seiner Obrigkeit und unbesehen ausführte, was sie vorschrieb. Diese unbedingte Dienstwilligkeit führte ihn Anfang der neunziger Jahre zu einem Zusammenstoß, dem seine weiche, jedem Streite aus dem Wege gehende Natur nicht gewachsen war, und der seinem ferneren Lebensgange der Stempel einer gewissen Tragik aufdrückte. Der Anlass dazu sah zunächst mehr komisch als tragisch aus. Damals trugen in Hesepe die Schulmädchen - wie auch anderwärts in der Grafschaft - noch gefütterte, enganliegende, festgebundene Mützen, die nach ärztlichem Urteile und nach allgemeiner Erfahrung Brutstätten von Ungeziefer und Ansteckungskrankheiten waren. Da ordnete nun die preußische Regierung an, dass die Mädchen in der Schule die Mützen abzulegen hätten. Hüsemann achtete pflichtgemäß darauf, dass diese Anordnung in seiner Schule durchgeführt wurde. Ein starrköpfiger, pfiffiger Bauer der Schulgemeinde ließ darauf morgens vor dem Schulgange die Mützenbänder seiner Töchter festnähen, so dass nur noch mit gelinder Kraftaufwendung die verbotenen Kopfbedeckungen entfernt werden konnten.

Hüsemann scheute als treuer Diener seiner Behörde auch davor nicht zurück. Da klagte ein Bauer wegen Sachbeschädigung und - hatte Erfolg damit. Die Regierung musste einsehen, dass eine alte Landestracht, mag sie auch noch so gesundheitswidrig erscheinen, sich nicht einfach durch Polizeibefehl beseitigen lässt. Sie trat jetzt jedoch nicht vor den Lehrer, der nur seiner Dienstanweisung gefolgt war; auch eröffnete sie nicht den sogenannten Kompetenzkonflikt, sondern sie versetzte, damit über die böse Sache möglichst bald Gras wuchs, den Lehrer "im Interesse des Dienstes" nach Alte Pikkardie. Das musste Hüsemann,  der in Hesepe bodenständig geworden war, mit Recht als eine harte Strafe auffassen; den übermäßig bescheidenen, schüchternen Mann machte diese unverdiente Behandlung nur noch scheuer gegen die Menschen. Im gleichen Maße musste sein Misstrauen und sein Gefühl der Unsicherheit gegen seine Vorgesetzten wachsen. Hätte sich unter den letzteren ein Mann gefunden, der scharfsichtig genug gewesen wäre, den wertvollen Kern in dem Wesen des zu Unrecht gemaßregelten Lehrers zu erkennen, und sich die Mühe gegeben gegeben hätte, seine wortkarge, oft befangene Art, die sich insbesondere bei Revisionen bekundete, psychologisch zu verstehen, so wäre manches von dem Drucke, der seine Seele für den fast dreißigjährigen Rest seines Lebens beschwerte, zu beseitigen gewesen. Der Lehrer fand dagegen seine Aufsicht, die ihn tadelsüchtig quälte, die nur niederreißen und nicht aufbauen konnte, so dass er, mürbe gemacht, im besten Mannesalter seine Pensionierung nachsuchte, die ihm 1894 auch sofort gewährt wurde.

Mit einem unglaublich schmalen Ruhesolde zog er sich nach Kloster Frenswegen zurück. Hier unterrichtete die kath. Jugend damals ein Lehrer von ebenfalls eigenartiger Prägung, und es hatte für uns Nachwachsende einen eigenen Reiz, diese beiden alten Herren in lebhaftem Gespräche über Fragen des Lebens, des Staates, der Religion sich ihre abweichenden Meinungen auseinandersetzen zu hören, besonders auch dann, wenn sich zuweilen der Katholische Pfarrer Dr. Lammers aus Nordhorn, ein ungemein ursprünglicher Kopf, ihnen zugesellte. Nachdem dann später ein Wechsel der Pächter des Klostergutes eingetreten, auch sein Widerpart Schweers gestorben war, ging Hüsemann nach Nordhorn, wo er bis auf die letzten Wochen vor seinem Tode gelebt hat. Als regelmäßiger Spaziergänger, an den Menschen gern zage vorbeischreitend, trug er hier durch seine altfränkische Erscheinung zeitweilig dazu bei, dem Straßenbilde das Gepräge einer bereits vergangenen Zeit zu geben.

Daheim in seiner patriachalisch einfachen Wohnung besaß er eine reichhaltige Bibliothek und übertraf darin viele seiner alten und jungen Amtsbrüder, auch wohl seinen Zeitgenossen Lamann. Die Bücher brachten seinem stillen Geiste reiche Anregung, Erhebung und Erbauung; sie gewährten dem Einsamen viele glückliche Stunden. Aber er hielt seine Schätze vor den Augen anderer fast eifersüchtig versteckt, und kaum seine besten Freunde bekamen sie zu sehen. - Ein fleißiger Kirchgänger, hatte er in der Nähe der Turmtür seinen Platz, den er als letzter der Gottesdienstbesucher unauffällig erreichen und erster wieder verlassen konnte, ohne in die Volksmenge zu geraten. - Bei seinen fortgesetzten eifrigen Bibelstudien benutzte er außer der Luther- besonders gern die holländische Staaten-Bibel und die katholischen Übersetzungen von Allioli und Kistemaker. Bewundernswert wusste er inbetreff der verschiedenen Übertragungen ungezählter Bibelstellen jederzeit Auskunft zu geben.

Dem Fremden konnte bei oberflächlicher Betrachtung Hüsemann mitunter als ein komischer Alter erscheinen. Wer aber, um seine Abkunft und seinen eigenartigen Lebensweg wissend, in der warmen Sonne seines Wesens stand, der entdeckte allmählich hinter der zaghaften Hülle eine ganz in sich gefestigte und geschlossene Persönlichkeit. Je genauer man ihn kannte, desto sicherer traten die edlen Züge dieser einfach gebauten, reichen Natur hervor.

Soll ich noch von einer menschlichen Schwäche reden, die auch dieser unvergleichlich anspruchslose Mann hatte, so möchte ich wenige Worte über seine gelegentliche Beschäftigung als - Dichter verlieren. Es war kein kostspieliges und, da er die Erzeugnisse seiner Muse sorgsam verschlossen hielt, in keiner Weise ein gemeingefährliches Steckenpferd, das er den Pegasus zu reiten versuchte. Dass die Schulmeister auf dem Lande als geborene Gelegenheitdichter galten - man denke u.v.a. an den alten Deetmerink in Hilten! - war ein Erbteil des nun versunkenen Geschlechtes; Hüsemann stand im Banne dieser Überlieferung. Wenn er mir in Stunden besonderer Vertrautheit seine selbstverfassten, meist holländischen Reime vorlas, habe ich mitunter versucht, ihn schonend zu verständigen, dass er mir auf diesem Gebiet nicht ausreichend begabt vorkomme. Ich hatte die Genugtuung, zu beobachten, dass der dichterische Trieb sehr zurückging, was jedoch auch in dem zunehmenden Alter begründet gewesen sein mag.

Im ganzen erschien er mönchisch in seinen Grundsätzen und Lebensgewohnheiten. Nicht alle Ordensbrüder in Frenswegen mögen es darin zu ihrer Zeit so streng gehalten haben wie dieser Protestant und Calvinist, der zu Ende des Jahrhunderts die einsamen Klosterwege mit stillen Gedanken über Zeit und Ewigkeit ging, die zu Anfang desselben Zeitraumes noch die Pater gewandelt waren. - Ob je in fernen Jugendtagen die Minne sein Herz beschlichen und ein Mädchen seinen strengen Sinn für kurze Zeit betört hat - ich habe es nie erfahren; er hat mit mir nicht darüber gesprochen, und doch vertraute er mir unter allen Menschen in den letzten 25 Jahren anscheinend am meisten.

Seit dem letzten Winter, in dem der kräftige Mann eine Zeitlang ernstlich erkrankte, hatte er das Gefühl, dass sein Lebenstag sich neige. Gefasst und ruhig ist er am 26. Mai heimgegangen.

Lamann und Hüsemann - durch sie standen wir noch immer in lebendigem Zusammenhange mit den Tagen unsrer Väter. Doch nicht nur wie Boten, sondern wie Zeugen jener Zeit wandelten sie unter uns, in sich ein Leben tragend, wie wir es kaum nachzuempfinden vermögen. Wir sind ärmer geworden durch ihren Tod. Ihr Lebensgang umfasst ein ungemein belangreiches Stück der gesamten Kultur der Grafschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Wie sie unter dem Geschlecht der Gegenwart selbst als Sonderlinge galten, so war die ganze Umwelt ihres Jugend- und Mannesalters von eigenartigen Menschen bewegt, deren im vorstehenden Zusammenhange vielleicht zwanzig und mehr erwähnt und manche andere nicht aufgezählt worden sind. Möge nun unserm Volke bald der berufene Dichter kommen, der in dem Leben dieser beiden würdigen Lehrer ein poetisch erfasstes Bild ihrer Zeit auf die Nachwelt weitergibt!
H. Reurik, Rektor in Gevelsberg, im Jahre 1921
Quellen:
H. Reurik, Lamann und Hüsemann, Der Grafschafter, 2. Jahrgang 1921
              Teil I:   Nr. 13, 22. Juni 1921
              Teil II:  Nr. 14, 6. Juli 1921
              Teil III: Nr. 15, 23. Juli 1921

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