Grafschafter Schulgeschichte

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Nhs-42

Entwicklung des Schulwesens in Neuenhaus

Menn ass du sitten bliffs, dann kumms du weär an de Messgreepe"

Jan Harm Kip zum 90. Geburtstag

von Gerhard Herrenbrück

Jan Harm Kip wurde am 14. August 1911 geboren. Im Jahre 2001 feierte er seinen 90. Geburtstag. Aus diesem Anlass erschienen unter "Profile" im "Grafschafter" eine Würdigung seines Lebenswerkes und Aussagen von Jan Harm Kip "Über sich selbst" erschienen, die an dieser Stelle wiedergegeben werden sollen.

Dies dürfte ungewöhnlich sein: Eine Grafschafter Gemeinde bittet zu ihrem 350-jährigen Gründungsjubiläum dieselbe Persönlichkeit um den Festvortrag, die schon 50 Jahre zuvor, beim 300-jährigen Jubiläum, die Festrede hielt. So geschehen im Jahre 1998 in Alte Piccardie; und der Name des Festredners ist in der Grafschaft wohl bekannt: Jan Harm Kip- Schulmann, Prediger, plattdeutscher Erzähler und Heimatforscher; in den Jahren direkt nach dem Krieg junger Lehrer in Alte Piccardie.

Ungewöhnlich ist die dankbare Erinnerung einer ganzen Gemeinde an den über ein halbes Jahrhundert hinweg unvergessenen Lehrer in schwerer Zeit; ungewöhnlich sind aber auch die Begabungen und unbeirrbaren Kräfte, die sich in diesem Leben entfalten; ein tätiges und erfülltes Leben, über das der Vortrag des jungen Lehrers anno 1948 und sein altersweises Gegenstück 50 Jahre später einen großartigen Bogen spannen.

Dieses lange Leben beginnt in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg in bescheidenen Verhältnissen, auf einem kleinen Bauernhof in Bimolten, der den Eltern und den drei Kindern nur ein einfaches und hartes Dasein gewährt. Und doch erinnert sich Jan Harm Kip dankbar an eine glückliche Kindheit, an die fraglosen Ordnungen der bäuerlichen Arbeitsabläufe, des Kirchenjahres, des Wechsels der Jahreszeiten. Er ist noch ganz in der plattdeutschen Sprache aufgewachsen.

Erst in der Schule lernt er das Hochdeutsche gründlich - gewissermaßen als erste Fremdsprache. Mit der Erweiterung des Wortschatzes wächst der Lebensraum und der Erfahrungshorizont- und umgekehrt. "Sprache und Zahlen- damit erobert man die Welt", so lautet später eine der Maximen als Lehrer. Er selbst ist das beste Beispiel dafür. Überhaupt ist sein weiterer Werdegang ein exemplarisches Stück Grafschafter Heimatgeschichte im 20. Jahrhundert: Zuerst natürlich in dem Sinne, dass er in seinem späteren beruflichen Wirken daran selbst mitgeschrieben hat, als Lehrer und Rektor an sechs Schulen quer durch die Grafschaft hindurch, von Vorwald bis Bentheim, und zuletzt dann als Schulrat für Nordhorn und die Obergrafschaft.

Ein Stück Grafschafter Bildungsgeschichte ist er aber auch in dem Sinne, dass er selbst der erste seiner Herkunft war, dem in der Grafschaft selbst bessere Lebenschancen durch bessere Bildungsmöglichkeiten zuteil wurden. Natürlich musste man die Begabung dafür haben. Die hatte er; lesen konnte er zum Beispiel schon, als er mit 5 1/2 Jahren in die Schule kam. Das hatte er sich selbst beigebracht, weil sein hungriger Geist Futter brauchte. Aber man muss nicht nur können, sondern auch wollen.

Und Jan Harm Kip wollte: Als 1925 in Nordhorn die Aufbauschule gegründet wurde, das spätere Gymnasium, da war er buchstäblich die Nummer Eins. Als erster stand er auf der Anmeldeliste. Denn als er von der Möglichkeit erfuhr, hielt es ihn nicht länger in Bimolten, und er meldete sich selbst, noch nicht 14-jährig, dort an. Nicht sein Lehrer aus der Dorfschule. Nicht seine Eltern. Immerhin verhinderten sie den Schritt auch nicht, sondern als sie merkten, wie groß sein Wille war, sparten sie sich sogar das erhebliche Schulgeld vom Munde ab. "Leären maggse wall; menn wenn Du sitten bliffs, dann kumms Du weär an de Messgreepe."

Das war die Alternative, vor die ihn sein Vater stellte. Noch wenige Jahre zuvor wäre es ihm so ergangen wie vielen begabten jungen Menschen in der Grafschaft: Geringe Bildungsmöglichkeiten, geringe Chancen. Man blieb im angestammten Lebenskreis eines meist kleinbäuerlichen Daseins. Es sei denn, die Eltern waren in der Lage, ihr Kind auf eine höhere Schule außerhalb der Grafschaft zu schicken, nach Lingen oder Rheine zum Beispiel. Die Chance, die sich ihm mit der neugegründeten Aufbauschule in Nordhorn bot, war die entscheidende Weichenstellung seines Lebens. Und es war nur konsequent, dass er in seiner Berufswahl dann später dem Bildungsmetier treu blieb: "Kip will Lehrer werden", stand auf dem Reifezeugnis.

Nach dem Studium in Hannover und Dortmund folgten schwierige Anfänge in schwierigen Zeiten: Zuerst arbeitslos; dann unverhofft die erste Stelle in Vorwald im Frühjahr 34; Unterbringung beim Bauern in der "Upkammer"; Gehalt: 150 Mark monatlich. Weitere Stationen in rascher Folge: Uelsen, Georgsdorf; und nach sechs Jahren Krieg: Alte Piccardie und Bentheim.

Und dann für anderthalb Jahrzehnte: Rektor der Mittelschule in Neuenhaus, einer Schule mit gutem Niveau und gutem Ruf, aber mit maroden äußeren Verhältnissen. Die Stadt Neuenhaus allein war überfordert, die Schule so auszustatten, dass sie den gestiegenen Ansprüchen eines Bildungsweges zur mittleren Reife genügen konnte, zumal sie in vermehrtem Maße von Schülern aus der ganzen Niedergrafschaft besucht wurde.

Jan Harm Kip verhalf einem Schulzweckverband zum Leben, dem 26 Gemeinden aus der Niedergrafschaft, von Emlichheim bis Bimolten, angehörten und die fortan die Mittelschule trugen. Ein schönes neues Schulgebäude konnte so errichtet werden, und aus der Mittelschule Neuenhaus wurde so die Mittelschule Niedergrafschaft, zu deren zentralem Bildungsstandort die Stadt dadurch aufstieg. Nicht ironisch, sondern mit Respekt nannte man die Schule im Volksmund die "Universität von Neuenhaus". Unter den Männern und Frauen, die heute in Politik, Wirtschaft und Verwaltung der Niedergrafschaft Verantwortung tragen, gibt es erstaunlich viele, die sich in dieser Schule unter Rektor Kip zu bewähren hatten.

Jan Harm Kip ist der plattdeutschen Sprache, in der er aufgewachsen ist, ein Leben lang verbunden geblieben- als aktives Mitglied des Grafschafter "Plattproater Krings" und des "Kreenk vuur Twentse Sproak", als Erzähler von plattdeutschen Anekdoten und anderen Prosatexten, die nach wie vor zum eisernen Bestand der beliebtesten Texte beim plattdeutschen Lesewettbewerb gehören. Aber auch bei der Erschließung alter Dokumente hat er seinen historischen und sprachlichen Sachverstand immer wieder zur Verfügung gestellt, 1996 zum Beispiel in Verbindung mit Eckhard Woide bei der Herausgabe des umfangreichen Werkes "Stads Ordonnantien/ Stadtverordnungen der Stadt Neuenhaus 1601 - 1762".

Nie hat er das Plattdeutsche als Sprachbarriere gegenüber dem Gebrauch des Hochdeutschen empfunden. Im Gegenteil: das Plattdeutsche hat ihn bereichert. Und mit dem Hochdeutschen ist er umso bewusster und wählerischer umgegangen. Das hatte zur Folge, dass er als Lehrer besonders sensibel blieb für die Ausdrucksprobleme von Schülern, die in einer wenig sprachintensiven Umgebung aufwuchsen. Sprachförderung war ein Schwerpunkt seines Unterrichts.

Und auch als Prediger zog er Gewinn aus der Sprachkraft des Grafschafter Platt. Zwei Kardinalfehler protestantischer Predigt blieben ihm so erspart: Die Anschaulichkeit des Platt bewahrte ihn vor blutleerer Abstraktion. Und dessen lapidare Bündigkeit vor allzu geölter Beredsamkeit. In den Andachten, mit denen er seine Neuenhauser Gemeinde auf der ersten Seite des Gemeindebriefes seit Jahrzehnten begleitet, gibt es viele Sätze, die nur aus vier oder fünf Wörtern bestehen.

Aber gerade in dieser Sparsamkeit sind sie von treffender Wucht. Seine Predigtsprache ist beim Plattdeutschen in die Schule gegangen. Und wie kein anderer war er auch dazu berufen, direkt in Plattdeutsch zu predigen, ohne daraus ein folkloristisches Amüsement werden zu lassen. Unvergessen ist seine plattdeutsche Predigt 1959 beim Niedersachsentag in Nordhorn. 1500 Menschen standen und saßen in der Alten Kirche und hörten zu. Ein Jahr zuvor erst war er zum Ältestenprediger ernannt worden, zum ersten in der Grafschaft. Inzwischen gibt es hier längst keine Kanzel mehr, auf der er noch nicht gestanden hätte. Seinen letzten plattdeutschen Gottesdienst hielt er in Brandlecht zum Reformationsfest im vergangenen Jahr.

90 Jahre ist er nun alt. Er behauptet zwar von sich, er sei nicht mehr so gut zu Fuß wie ehedem, mit der Fietse gehe es sehr viel besser. Doch wer ihn am Sonntagmorgen aus der Fürstenstraße zum Gottesdienst schreiten sieht, ausgreifenden Schrittes, Hände auf dem Rücken, mit der unvermeidlichen Kipse die Augen beschattend, der weiß, was er von solchen Bemerkungen zu halten hat.

Katharina Kip jedenfalls, die Frau an seiner Seite, muss sehen, dass sie Anschluss hält. Fast 60 Jahre gehen sie nun Seite an Seite, zum Gottesdienst und auf allen anderen Wegen. Als junger Lehrer in Georgsdorf sah er sie zum ersten Mal, als er über die Hecke in den Nachbargarten einen raschen Blick warf. Das war der Garten von Pastor Saueressig, bei dem ein Backfisch - wie es damals noch hieß - namens Katharina Schroer aus Mühlheim zu Besuch war. Zehn Jahre war Jan Harm Kip älter als sie, aber genauso schüchtern. Dennoch: Er folgte, inzwischen schon Soldat, ihren Spuren nach Mühlheim.

Kriegsheirat 1942. Seitdem teilen sie ihr Leben auf eine, wie beide ungeniert bekennen, traditionelle Weise: Er war und ist in Anspruch genommen von seinen vielfältigen Aufgaben am Schreibtisch und außer Haus, sie war und ist ihm Gefährtin, die dem Haushalt vorsteht, die fünf Kinder erzog und ihm den Rücken freihielt. So groß ist ihre Gemeinsamkeit, dass ihr Schöpfer ihnen sogar ihren Geburtstag in ein und denselben Monat gelegt hat. Deshalb gibt´s jetzt im August in der Fürstenstraße gleich zwei runde Geburtstage zu feiern.

Der "Grafschafter" gratuliert!

Quelle: Der Grafschafter, Heft 8/2001
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