Grafschafter Schulgeschichte

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NOH-79

Entwicklung des Schulwesens in Nordhorn

Die Holzbankklasse

von Wolfgang Mielke

"Auf Erinnerungstour zu alter „Wirkungsstätte“ und damit in die eigene Jugend gingen im Frühjahr 2011 Abiturienten von 1951 des Nordhorner Stadtring-Gymnasiums. Wolfgang Mielke, einer jener „Pennäler“ aus der damaligen Klasse 12b, erzählt, was sie dabei erlebten:

Ein „Vorauskommando“ der Oberschul-Klasse 12b von 1951 hatte vor einiger Zeit in sehr überraschte Augen geblickt, nachdem sich der kleine Trupp Weißhaariger und Kahlköpfiger mit energischem Klopfen Zutritt verschafft hatte in seinen jetzt vor Überfällen gesicherten früheren Klassenraum im Altbau des Gymnasiums am Stadtring. Die Besucher erklärten, sie wollten den Raum nur mal auf seine Brauchbarkeit für ein Klassenfoto prüfen. Das Ergebnis war negativ. Keine Bänke mehr, sondern Sitzgruppen. „Das geht nicht“, erklärte der Chef des Kommandos, Nordhorns früherer Oberkreisdirektor Dr. Günther Terwey, einst Klassensprecher der 12b. Die Außenansicht des früheren Eingangsbereichs der Schule war eine authentischere Alternative für das geplante „Gruppenbild mit Damen“.

Die 12b von 1951 war schulische Heimstatt von etwa 30 Fahrschülern aus der Obergrafschaft und der Niedergrafschaft, und ihr Fahrschülerdasein war Kitt für die Klassengemeinschaft, die bis heute zusammenhält. Im Gegensatz zu den Schülern aus Nordhorn zwang die Bentheimer Eisenbahn die Fahrschüler zu täglicher Gemeinsamkeit über die Schule hinaus. Sie trugen es denn auch mit Würde, als sie in einem Glückwunschtelegramm zum Abi aus Fahrschülern zu Pfarrschülern wurden.

Die „Fahrschülerei“ fand auf den Holzbänken in der 3. Wagenklasse statt, die „Fahrlehrerei“ einiger ebenfalls täglich mit der Bahn anreisender Lehrkräfte auf den Polstersitzen der 2. Klasse. „Zweitklassig“ wurden Schulhefte korrigiert, „drittklassig“ wurde Skat gespielt – abgesehen von gelegentlichem Umgang etwa mit lateinischen Vokabeln.

Hier dürfte auch das lateinische Verb „accumbere“ (zu Tische liegen) dem Lateinlehrer Dr. Barlage zugeordnet worden sein, der als „Accumbo“ in das Gedächtnis der Schüler einging – wegen seiner speziellen Körperhaltung bei der Schulspeisung im Kellergeschoss der Schule, einem frühen Vorläufer der heutigen Mensa. Um 1950 war allerdings das Angebot geringer. Unter Hausmeister Butzkes Regie gab es meistens Milchsuppe, und zwar kostenlos.

Die Schülerzahlen der Klassen schwankten in den Nachkriegsjahren. Aus den früheren deutschen Ostgebieten mussten „Flüchtlinge“ eingegliedert werden, die später „Vertriebene“ hießen. Mancher Ausgebombte aus den westdeutschen Großstädten konnte wieder heim, weil seine Familie mittlerweile zu Hause eine Bleibe gefunden hatte. Der Mädchenanteil in den Klassen lag bei rund einem Viertel. Sie beschwerten sich nie darüber, dass sie eine „Oberschule für Jungen“ besuchen mussten. Heutzutage finden sie es – im Rückblick nach 60 Jahren – sogar ganz amüsant.

Unter den Vertriebenen aus dem deutschen Osten waren die Schlesier in der Mehrheit – bei den Lehrern ebenso wie bei den Schülern. Direktor Herbert Leonhardt war Schlesier, Oberstudienrätin Elfriede Gierich kam aus Oberschlesien und führte die Klasse mit Ausnahme des letzten Jahres, das sie sich nicht mehr zumuten wollte. Musiklehrer Rudolf Gärtner kam aus Breslau und sammelte privat schlesisches Liedgut.

Neben den schlesischen Schülern fanden sich einige „Umsiedler“ aus der russischen Zone ein und versprengte Einzelexemplare aus dem Baltikum, aus Hinterpommern und aus Posen. Etliche Schülerinnen und Schüler waren Halbwaisen – die Väter waren im Krieg gefallen. Einer der Väter kehrte erst nach dem Abitur des Sohnes aus russischer Gefangenschaft zurück.

Ein großer Teil Abiturient(inn)en der 12b von 1951 wandte sich nach dem Abi pädagogischen Aufgaben zu, vorwiegend im Lehramt. Etliche fanden im Verwaltungsdienst und in der Industrie leitende Aufgaben. Einige Schüler folgten familiären Vorgaben (Landwirt, Kaufmann). „Einzelkämpfer“ gingen speziellen Neigungen nach (Pastor, Bibliothekarin, Apotheker, Journalist). ...

Die Zahl der „Abgänge“ ist erstaunlich gering. Als erster starb vor einigen Jahren ausgerechnet der einzige Arzt, den die 12b von 1951 hervorgebracht hat – abgesehen von einem tödlich verunglückten Mitschüler. Guter Gesundheit erfreut sich offenbar der einzig übrig gebliebene Nikotinsklave der 12b von 1951. Das Hotel wies ihm ein Raucherzimmerchen mit sechs Plätzen und dem Messingschild „Hemmingway“ (mit doppeltem „m“!) neben der Tür zu."

Quelle: GN, 7.5.2011
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