Allgemeine Entwicklung des Schulwesens
Das Volksschulwesen der Grafschaft Bentheim
von Schulrat Valentin
"Es gibt daher keine Kreise im deutschen Volksleben, denen die Bildungs- und Erziehungsarbeit unserer Volksschule, die an ihr und in ihr zu leistende Arbeit gleichgültig sein könnte und dürfte. Für jeden deutschen Arbeitsgarten ist die Volksschule die große Baumschule, in der die kleinen Stämme gerade und wurzelecht gebildet werden, die er dereinst für seine Kultur nötig hat". (Herr Ministerialdirektor Paul Kaestner in "Kraft und Geist unserer deutschen Volksschule".)
Es war am 1.April 1893, an dem Tage, wo zu großen Ärger vieler Reisenden die Einführung der mitteleuropäischen Zeit etliche Unordnung in den Abfahrzeiten der preußisch-hessischen Eisenbahn anrichtete, als ich von Lingen her zum ersten Mal den Boden der mir später so lieb und vertraut gewordenen Grafschaft betrat. Wohl hatte ich früher dieses und jenes von dem "Füersteenland" gehört, was einen schreckhaft veranlagten Menschen gruseln machen konnte. Der erste Eindruck auf den Marschfriesen war auch nicht gerade erhebend und ermutigend: die lange Wanderung durch die endlose Lohner Heide machte mich mächtig mürbe und verdrossen.
Doch endlich tauchte Nordhorn auf, das Ziel meiner Wallfahrt. Hier sollte ich laut Verfügung der hohen Schulaufsichtsbehörde schaffen und wirken, hier mir meine pädagogischen Sporen verdienen. Daß ich verhältnismäßig schnell in das pädagogische Fahrwasser einlenken konnte, daß ich vor allen Dingen auch in kurzer Zeit Land und Leute kennen lernte, verdanke ich einem lieben älteren Amtsgenossen, der als Sohn seiner Heideheimat innig vertraut war mit allen ihren Schönheiten und Herbheiten, ihren Fehlern und Tugenden. Noch kürzlich entdeckte ich seine charakteristische Handschrift in der Schulchronik einer entlegenen Heideschule. Ich sende ihm einen herzlichen Gruß ins schöne Westfalenland, wo er vor vielen Jahren eine zweite Heimat fand.
Nordhorn, damals ein kleines Ackerbürgerstädtchen mit einigen wenigen bescheidenen Textilfabriken und einer bodenständigen Arbeiterbevölkerung, besaß vor 32 Jahren eine vierklassige reformierte und ein einklassige katholische Volksschule, daneben noch eine einklassige Rektorschule. Die angrenzenden Gemeinden Frensdorf und Altendorf erfreuten sich je einer einklassigen Volksschule. Außerdem war in Nordhorn noch eine Privatmädchenschule für die Töchter der Honoratioren vorhanden, die von Fräulein Schulz, einer sehr gebildeten Dame, geleitet wurde.
Das waren die Bildungsmöglichkeiten der damaligen Kleinstadt, die bescheidenen Ansprüchen genügten. Auf dem platten Lande ringsumher mühten sich die Lehrer in zumeist überfüllten einklassigen Schulen. Uebrigens waren prächtige alte Herren unter diesen Pädagogen einer vergangenen Zeit. Häufig bin ich bei den würdigen Amtsgenossen im bescheidenen Lehrerhause zu Gaste gewesen und habe mich gern belehren lassen über pädagogische Maßnahmen, über Landes Brauch und Sitte. In den Vereinssitzungen ging es überaus gemüthlich her: Tee und lange Pfeife waren an der Tagesordnung. Doch wurde dabei stramm und gründlich gearbeitet, und vor den "Alten" aus Schulinspektor Fokkes kleiner Lehrerbildungsanstalt mußten wir "Jungen" nicht selten die Waffen strecken. Einmal im Jahre, gleich nach dem lieblichen Fest der Pfingsten, tagte der Kreislehrerverein in des Landes Mittelpunkt, in dem vechteumflossenen Nordhorn.
Vor einem Menschenalter war die Grafschaft durch Heidesand und Moor völlig von der Außenwelt abgeschlossen. "Kein Klang der aufgeregten Zeit drang noch in diese Einsamkeit!" Kein Schienenstrang wies den Wissens- und Weltdurstigen in die Weite - die Grafschaft blühte im Verborgenen wie das liebliche Röslein auf der Heiden. "Tief die Welt verworren schallt" - doch in der Grafschaft herrschte tiefster Frieden. Kein Wunder, daß manche Segnungen der Kultur, manche Errungenschaften der Zivilisation in der Grafschaft kaum gekannt und daher wenig geachtet wurden - kein Wunder, wenn auf dem Gebiete des Schulwesens zumal manches noch im Argen lag.
Bau und Ausstattung der Schulhäuser ließen manches, manchmal alles zu wünschen übrig; die mangelhaften Lehrmittelsammlungen z. B. spotteten jeder Beschreibung. In jener Zeit war das typische Bentheimer Schulhaus, das auch heute noch nicht ganz ausgestorben ist, fast noch in jeder Bauerschaft zu finden, jener "kubistische" Bau aus den 50er Jahren des vorigen Jahrhunderts - eine verblüffend einfache architektonische Lösung für eine ländliche Bildungsanstalt.
Manches ist in den verflossenen 30 Jahren anders und besser geworden! Die Grafschaft ist dem Verkehr erschlossen; die einst so hart umstrittene "Längsbahn" hat sich siegreich durchgesetzt und wartet jetzt im Gefühl des sicheren Besitzes großmütig auf die Queranschlüsse - Autobusse erschließen in rasendem Tempo die übrigen Gebiete - ja, der Fluzeugdienst zwischen Amsterdam und Bremen spielt sich hoch oben in den Lüften über der Bentheimer Heide ab.
Auch das Schulwesen hat einen beachtenswerten Fortschritt gemacht, einen Sprung, wie ein behäbiger Bürger oder ein biederer Landmann in den 90er Jahren es sich nicht hätte träumen lassen. Groß-Nordhorn ist erstanden! Aus den winzigen Schulsystemen der längst überholten Vorzeit sind umfangreiche 10-, 14- und 16klassige Anstalten erwachsen. Eine fast amerikanische Entwicklung, verursacht durch das rasende Wachstum der einheimischen Industrie.
Insgesamt sind in der Grafschaft zur Zeit vorhanden an reformierten Schulen: Eine Halbtagsschule, 28 einklassige, 7 zweiklassige, 10 dreiklassige, 6 vierklassige, 1 sechsklassige, 1 siebenklassige, 2 vierzehnklassige und 1 sechszehnklassige - insgesamt 57 Schulen mit 5.577 Kindern, 126 Lehrern und 17 Lehrerinnen (darunter 4 technische).
In Schüttorf und Nordhorn sind für die praktische Ausbildung der älteren Schulmädchen neuzeitliche Schulküchen eingerichtet; in Schüttorf werden demnächst eine Turnhalle, ein großer Sport- und Spielplatz sowie ein Schulbrausebad angelegt, Einrichtungen, die der Gesundung und Ertüchtigung der Jugend dienen sollen.
Zu den reformierten kommen noch zwölf katholische Volksschulen, vier Mittelschulen und - die so heiß umkämpfte und sehnlichst erhoffte Aufbauschule in Nordhorn. In ihr hat der Kreis Bentheim endlich seine höhere Schule bekommen. Mit der Aufbauschule werden neue Bildungsmöglichkeiten für die Sohne und Töchter des Grenzlandes geschaffen, die, wenn sie nicht geistig verkümmern wollten, ehedem auf fremden Bildungsanstalten sich ihr geistiges Rüstzeug fürs Leben schmieden mußten. Möge die junge Anstalt wachsen, blühen und gedeihen, möchten doch aus ihr Ströme des Segens quellen, das ganze Land befruchtend und belebend! -
So ist manches geschehen, manches gebessert, vieles gepflegt und vervollkommnet, doch bleibt naturgemäß manches zu tun übrig. Insbesondere muß in jenen Schulverbänden, in denen neue Lehrerstellen eingerichtet wurden, obwohl die Klassenräume noch fehlten, in der allernächsten Zukunft an den Bau der notwendigen Unterrichtsräume herangegangen werden, wie es in Brandlecht, Bakelde, Georgsdorf und Balderhaarmoor bereits geschehen ist. Ferner müßte im Interesse der körperlichen Ertüchtigung der Grafschafter Jugend mehr als bisher die Anlage von ausreichenden Spielplätzen und von brauchbaren Bade- und Schwimmgelegenheiten ins Auge gefaßt werden, welche letztere sich an manchen Orten ohne große Kosten und Mühe schaffen lassen.
Daß ein reges pädagogisches Streben die Grafschafter Lehrerschaft beseelt, zeigt das rührige Vereinsleben, hat vor allen Dingen auch die Pädagogische Woche vom 27. bis 29. Mai 1925 bewiesen, die der Erörterung von Landschulfragen diente und aus allen Teilen des Kreises besucht war und allen Teilnehmern großen Gewinn brachte. Solche Tagungen sind Quellen der Kraft und der Arbeitsfreude, sie bewahren vor allem den Lehrer, der fern von der Kultur an den äußersten Grenzen des Landes seines Amtes waltet, vor Erstarrung und Versteinerung und geben seinem Wirken neuen An- und Auftrieb.
Ich bin gewiß, dem verständnisvollen Zusammenarbeiten aller beteiligten Kreise, der politischen sowohl wie der Schulbehörde, der Medizinalverwaltung, der Schuldeputationen und Schulvorstände und nicht zuletzt der Eltern- und Lehrerschaft, wird es gelingen, das Volksschulwesen der Grafschaft zu einer gesunden und lebenskräftigen Baumschule zu gestalten, die ihre wohl gebildeten und wurzelechten Stämmlein in den großen deutschen Arbeitgarten liefert zum Aufbau und Neubau unseres geliebten deutschen Vaterlandes.
Das walte Gott!
Quelle: Heimatkalender 1926 ; Seiten 49 - 51